Persönliche Gedanken zu Risiken und Nebenwirkungen
Wahrscheinlich geht es euch genauso wie mir: Es ist ganz schön komplex, sich ein Bild der Lage zu machen welches die Realität hinreichend genau abbildet, um daraus verantwortungsvolle Schlüsse zu ziehen. Als Tangotänzer, -veranstalter und -lehrer sehe ich mich allerdings in der Pflicht, mich um eine belastbare eigene Meinung zu kümmern.
Nicht zuletzt, weil wir als Tangocommunity m.E. besonders gefordert sind, uns Gedanken zu machen: Aus Sicht der Virologie gehört Tangotanzen in Milongas, wie wir es kennen und lieben, zu den allerletzten Dingen, die nicht mehr von Verboten betroffen sein werden. Die Frage danach, was richtig ist, spaltet auch die Tangowelt in ‚Vorsichtige‘ und ‚Sorglose’. Damit wir uns alle irgendwann alle als ‚Informierte‘ wiederfinden braucht es eine möglichst faktenbasierte eigene Meinung dazu, die wir uns im Dauerfeuer zwischen angstschürender Berichterstattung und Verschwörungstheorien wohl selber erarbeiten müssen. Auch um zu wissen, ob z.B. die Teilnahme am Untergrundtango in Wohnzimmern verantwortbar ist.
Solange diese Diskussion rein emotionsbasiert geführt wird, werden die Vorsichtigen, die Sorglosen und die Informierten nicht zusammenkommen. Aus meiner Sicht hilft da nur das ZDF: Zahlen, Daten, Fakten. Und zwar aus einer Vielzahl von Fachgebieten.
Hilfreich zur Einordnung meiner eigenen Perspektive fand ich eine kleine Graphik aus dem Kontext des Integralen Denkens mit den vier Dimensionen Vertrauen, Naivität, Zynismus und kritisches Denken (s.u.). Mein eigenes Denken bewegte sich in der Vergangenheit zugegebenermaßen meistens zwischen den Polen Vertrauen und Naivität. Von Zynismus, der mir von anderen entgegengebracht wird, bekomme ich meistens Bauchweh. Kritisches Denken ist mir als ehemaliger Akademiker und Wissenschaftler zwar nicht völlig fremd, jedoch habe ich es erst mal nicht auf Themen wie Pandemie, PCR-Test, Virologie, Immunologie, Grundrechte usw. angewandt. Dies habe ich versucht, nachzuholen, um Widersprüche aufzulösen, die sich in meiner Wahrnehmung des medialen Trommelfeuers auftun.
Im Kern geht es natürlich um die Frage: Wie gefährlich ist Covid-19 wirklich? Diese Frage wird meistens heruntergebrochen auf: Wieviele Intensivbetten stehen zur Verfügung für schwere Krankheitsverläufe? Wieviele positiv Getestete können die Gesundheitsämter im Blick behalten? Dagegen steht die Frage der Verhältnismäßigkeit: Wieviel Sinn machen welche Schutzmaßnahmen in Anbetracht eines Abwägens zwischen dem Schutz von Gesundheit einerseits und anderen nicht ganz unwesentlichen Grundrechten andererseits?
Zur Zeit wird vor allem auf die Zahl der positiven Testergebnisse geschaut. Diese wird als Grundlage genommen, um die Belastung des Gesundheitssystems abzuschätzen. Alle relevanten Zahlen kann man mit etwas Recherche selbst finden. So sind die meisten Getesteten negativ. Nicht alle positiv Getesteten sind tatsächlich aktiv infiziert (der Test wurde gar nicht dafür entwickelt), außerdem gibt es eine Falschpositivrate von 1% bis 50% je nach verwendetem Testverfahren. Nicht alle Infizierten entwickeln Symptome, in 80-90% der Fälle gibt es keine bis milde Symptome wie bei einer Grippe. Bleiben die schweren Verläufe, die auch zum Tod führen können (laut WHO 0,23 % der tatsächlich Infizierten).
Für eine realistische Einschätzung des Geschehens reicht die Zahl der positiven Testergebnisse und der Inzidenzwerte also nicht aus. Es braucht dafür mindestens die tatsächliche Zahl der belegten Intensivbetten, die tatsächliche Letalitätsrate, der Altersdurchschnitt der Todesfälle (derzeit ca. 81 Jahre), die Unterscheidung von „an oder mit“, belastbare Zahlen in Bezug auf Übersterblicheit usw. (mehr dazu am Ende bei den Ressourcen).
Staatliche Eingriffe in Grund- und Persönlichkeitsrechte sollten aus guten Gründen sehr gut begründet sein. Wie gerade ausgeführt ist die Fokussierung auf die Zahl positiver Testergebnisse sowie der etwas beliebigen Zahl der Inzidenzen aus meiner Sicht dafür nicht ausreichend. Ich finde es absolut sinnvoll, bei einer akuten Grippewelle grundsätzlich Abstand zu halten. Ich möchte aber wie bei jeder bisherigen Grippewelle auch weiterhin die Freiheit haben, selbst entscheiden zu können in welchen Situationen ich mich wie schütze und wann ich mich bewußt dem Risiko, mich anzustecken, aussetze, weil andere Kriterien mir wichtiger sind. Zum Beispiel bei der Frage, wann, wo und mit wem ich eng umschlungen Tangotanzen möchte. (Und ja: Erkältet zu einer Milonga, einem Kurs oder einem Festival zu gehen ist keine gute Idee.)
Es gibt eine Menge Menschen, die auf mich einen durchaus intelligenten Eindruck machen, welche einige der Maßnahmen in Frage stellen und dies m.E. plausibel und faktenbasiert wissenschaftlich oder juristisch begründen. Wenn wir es tatsächlich mit einer Pandemie in der Qualität von Ebola zu tun haben, bin ich gerne bereit, mein Leben vorübergehend einzuschränken. Wenn wir es jedoch mit einem Virus in der Qualität einer Influenza zu tun haben, fällt es mir schwer zu verstehen, wieso Entscheidungsträger sich nicht ebenso von einer breiten Datengrundlage leiten lassen, Grundrechte gegeneinander abwägen und dann Entscheidungen treffen, die rational und verhältnismäßig sind.
Im letzteren Fall wäre meine Solidarität nämlich überstrapaziert und ich würde anfangen, mich über die Einschränkungen meiner Berufsausübung und die meiner Kolleginnen mächtig zu ärgern. Und dabei geht es nicht einmal um den Verlust an Lebensqualität, den Tangotanzen für mich und so viele Aficionados bedeutet. Oder um den fehlenden Boost für mein Immunsystem, wenn ich a) zu guter Musik b) tanze c) mit einem wunderbaren Menschen im Arm. Mein Immunsystem fühlt sich dadurch so befeuert, daß jeder Virus sich mit Grausen von mir abwendet. Ein ordentlicher Schuß Vitamin D im Winter soll ebenso äußerst hilfreich sein.
Aber die katastrophalen Auswirkungen für so viele Menschen in den Bereichen Kultur, Gastronomie, usw. oder für die vielen Selbständigen lassen mich nicht kalt. Wenn es tatsächlich so ist, daß die Schutzmaßnahmen gesamtgesellschaftlich mehr kurz- und langfristigen Schaden anrichten als Nutzen, dann ist es nicht nur hilfreich sondern sogar notwendig, diesen Zweifel zu artikulieren und auf ein Ende der übertriebenen Maßnahmen zu bestehen. Statt mit dem Holzhammer könnten differenzierte, gezielte Maßnahmen ebenso wirksam sein aber mit erheblich weniger Nebenwirkungen.
Die Trennung in systemrelevante (Arbeiten gehen) und nicht systemrelevante Bereiche (Kunst, Kultur, Gastronomie, soziale Kontakte, Tanzen, Singen …) halte ich übrigens für untragbar. Ich möchte nicht in einer gespaltenen Gesellschaft leben, in der es einerseits angestellte Arbeitskräfte im home-office gibt und daneben nur noch Abgehängte. Alle Menschen in diesem Land sind systemrelevant; niemand soll zurückgelassen werden.
Von einer freien Gesellschaft erwarte ich mir offene Diskurse über relevante Fragen, inklusive Pandemien und Schutzmaßnahmen. Diese Offenheit kommt mir sowohl in journalistischen Beiträgen wie auch in persönlichen Gesprächen zu kurz. Emotionalität, hervorgerufen durch medial geschürte Todesangst, ist wohl ein Hindernis für rationale Auseinandersetzungen. Ein kritischer Diskurs, eine argumentative Auseinandersetzung und ein Abwägen von Verhältnismäßigkeiten kommt darüber zu kurz. Die reflexartige Verweigerung einer solchen Auseinandersetzung, bei der jede von der offiziellen Meinung abweichende Position als bedrohlich erlebt wird (und dann mit diffamierenden Begriffen belegt wird, Stichwort ‚Corona-Leugner‘, ‚Alu-Hüte‘) hilft uns aber nicht weiter. Und weil das Diffamieren abweichender Meinungen (anstelle kritischer Auseinandersetzung) zu den Merkmalen totalitärer Systeme gehört, kann ich die Sorge, wir befänden uns bereits in einer prä-totalitären Phase, absolut nachvollziehen.
Und die Fragen, die aufgeworfen werden, sind groß: Wieviel ist uns unser Gesundheits- und Pflegesystem als Gesellschaft wert? Wie ist unser Umgang mit Gesundheit und Krankheit? Wie gehen wir in unserer Kultur mit Tod und Sterben um? Ist es akzeptabel, daß Menschen nach 80 Lebensjahren irgendwann erkranken und sterben? Ist es menschlich, sie ‚zu ihrem Schutz‘ zu isolieren und vereinsamt sterben zu lassen? Sollten wir nicht alles tun, damit die 80 Jahre davor lebenswert, in Würde und Teilhabe und möglichst angstfrei gelebt werden können? Diesen Fragen aus dem Weg zu gehen, macht wenig Sinn. Leben ist erfahrungsgemäß endlich. Lasst uns gemeinsam schauen, wie es für möglichst alle so lebenswert wie möglich wird.
Wir leben in interessanten Zeiten, mit politisch Verantwortlichen, denen ich weiterhin unterstellen möchte, daß sie ihr Bestes geben. Die aber die Auswahl ihrer Berater so eng ziehen, daß nur die Regierungslinie unterstützt wird. So entsteht ein sich selbst verstärkendes System, aus dem es schwer auszubrechen ist. Aus meiner Sicht ist es ein beruhigender Gedanke, daß die Zivilgesellschaft ziemlich gut funktioniert: Auch wenn es beängstigend ist, was eine unterinformierte Regierung alles veranlassen kann, so gibt es doch eine große Anzahl von intelligenten, in ihren eigenen Disziplinen gut ausgebildeten Menschen, die durch das Beisteuern ihrer fachlichen und zuweilen hochkarätigen Perspektive für ein ausgewogeneres Gesamtbild sorgen. Nervig daran ist bloß, daß man sich alles selbst zusammensuchen muß und Spiegel-online nicht mehr ausreicht. Andererseits ist auch das eine gute Schulung in politischer Teilhabe.
Zurück zur verbindenden Kraft des Tangotanzens: Ich will diese besondere kulturelle Errungenschaft pflegen und erhalten. Weil hier tiefste Sehnsüchte des Menschseins erfüllt werden können: Sich zu begegnen, gesehen zu werden, gemeinsam in zeitlose Dimensionen einzutauchen. Sogar Menschen mit unterschiedlichen politischen oder virologischen Überzeugungen können – solange sie auf der nonverbalen Ebene bleiben – miteinander tanzen.
Wie werden wir wohl in zwanzig Jahren auf 2020 zurückschauen? Das Jahr, in dem die Entwicklung zu einer totalitären, autoritären, isolierten Gesellschaft für viele aus dem Nichts überraschend Fahrt aufnahm, die Einschränkung von Freiheits- und Persönlichkeitsrechten nach permanenten Lockdowns zur Gewohnheit wurde um wenigen großen Konzernen unbegrenzte Gewinne zu ermöglichen? Das Jahr, in dem nach einer katastrophalen Fehleinschätzung mangelhaft beratener Entscheidungsträger politische und gesellschaftliche Strukturen umgebaut wurden, die zu einem gesünderen, erfüllterem, gerechteren Leben aller beigetragen haben?
Vielleicht geht es auch eine Nummer kleiner: Ich hoffe, daß wir uns nach dem Ende der Corona-Maßnahmen schnell erholen werden von der geschürten Angst vor menschlicher Nähe und vielleicht sogar ein Revival der Wilden Zwanziger erleben mit ganz viel Kultur, Tanz und Begegnung. Es bleibt spannend.
Herzlich,Max
PS Für faktenbasierte Rückmeldungen und Hinweise zur Weiterentwicklung meiner Verortung zwischen Hoffnung und kritischem Denken bin ich dankbar.